Zeitzeugen - Wiedervereinigung Deutschlands
Theo Waigel
Theodor „Theo“ Waigel (* 22. April 1939 in Oberrohr) ist ein deutscher Politiker (CSU). Er war von 1989 bis 1998 Bundesminister der Finanzen und von 1988 bis 1999 CSU-Vorsitzender. Theo Waigel wurde auf dem Parteitag am 18. Juli 2009 zum Ehrenvorsitzenden der CSU gewählt. Im Zuge einer Kabinettsumbildung wurde er am 21. April 1989 in die von Bundeskanzler Helmut Kohl geführte Bundesregierung in das Amt des Bundesministers der Finanzen berufen, in welchem er für die Ausverhandlung und Durchführung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion verantwortlich war. Nach der Bundestagswahl 1998 schied er am 26. Oktober 1998 aus der Regierung aus, nachdem er den Posten des Finanzministers in den Kabinetten Kohl III, Kohl IV und Kohl V innehatte. Die Bezeichnung „Euro“ für die gemeinsame europäische Währung geht auf einen von Waigel im Dezember 1995 im Europäischen Rat eingebrachten Vorschlag zurück; er wird häufig als „Namensgeber für den Euro“ bezeichnet. Ex-Finanzminister Waigel über 1990 "Tränen rannen über das Gesicht von Willy Brandt" Theo Waigel verhandelte als Finanzminister die Deutsche Einheit. Zum Jahrestag erinnert er sich an den Moment der Wiedervereinigung, die D-Mark-Einführung und ihre Folgen - und warnt die CDU vor der AfD. Es ist ein historisches Bild: In der Nacht auf den 3. Oktober 1990 wird vor dem Reichstagsgebäude in Berlin die Einheit gefeiert. Spitzenpolitiker der Bundesrepublik und der ersten und letzten demokratisch gewählten Regierung der DDR haben sich auf einem Podest versammelt. Unter ihnen, ganz am rechten Bildrand, steht der damalige Bundesfinanzminister Theo Waigel. Im Interview mit dem SPIEGEL spricht der heute 80-jährige CSU-Ehrenvorsitzende über diese Nacht von Berlin, umstrittene Entscheidungen im wiedervereinigten Deutschland - und die heutige politische Landschaft im Osten. SPIEGEL: Herr Waigel, die historischen Fotos aus der Nacht des 3. Oktober 1990 zeigen Sie mit den politischen Größen der Zeit auf einem Podest vorm Reichstagsgebäude. Theo Waigel, Jahrgang 1939, ist Ehrenvorsitzender der CSU. Vom Frühjahr 1989 bis zum Oktober 1998 war er Bundesfinanzminister in drei Kabinetten unter Kanzler Helmut Kohl. Waigel war 1990 maßgeblich für die Verhandlungen zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion im Zuge der deutschen Einheit verantwortlich. SPIEGEL: Wie haben Sie den Tag damals erlebt? Waigel: Es war unglaublich bewegend. Wir sahen begeisterte Menschen vor diesem Podest, die auf uns zuströmten. Ich stand ja, von meinem Platz aus, ganz links, obwohl ich politisch ja kein Linker bin. Von mir aus gesehen ganz rechts standen die SPD-Politiker Willy Brandt und Oskar Lafontaine. Irgendwann im Verlauf der Nacht haben alle anderen - Helmut Kohl, Richard von Weizsäcker - dieses Podest verlassen. Schließlich standen nur noch Brandt und ich da oben. Er kam auf mich zu, gab mir wortlos die Hand. Tränen rannen über das Gesicht von Willy Brandt. Das vergesse ich nicht, das bewegt mich noch heute, wie dieser damals schon alte Mann sich über die Einheit gefreut hat. SPIEGEL: Was geschah dann? Waigel: Ich ging in den Reichstag, dort kam mir der damalige sowjetische Botschafter in Bonn, Wladislaw Terechow, entgegen. Er sagte mir, das sogenannte Überleitungsabkommen sei unterschriftsreif. Das regelte den Abzug der sowjetischen Truppen und Zivilisten vom Gebiet der DDR bis zum Sommer 1994, samt schweren Waffen. Am 9. Oktober 1990 haben wir dieses Abkommen dann in Bonn unterzeichnet. Es war der erste Vertrag des neuen souveränen vereinigten Deutschland. Übrigens waren die Herrschaften im Auswärtigen Amt damals ein bisschen verärgert, weil ausgerechnet der Finanzminister diesen wichtigen Vertrag unterzeichnet hat. SPIEGEL: Heute - 30 Jahre nach dem Mauerfall - streiten wir wieder darüber, ob die Arbeit der Treuhandanstalt im Osten richtig war, ob die Einführung der D-Mark im Sommer 1990 richtig war. Frustriert Sie das? Waigel: Nein, damit kann ich umgehen. Wenn ich eines gelernt habe, dann das: Als Politiker darf man keine Dankbarkeit erwarten. SPIEGEL: Und die ökonomischen Fragen? Waigel: Was wir - ob Währungsumstellung oder Treuhand - 1990 gemacht haben, das war im Wesentlichen richtig. Dazu stehe ich, dazu gab es keine Alternative. Die Gehälter und Renten mussten wir eins zu eins auf Westmark umstellen. Was viele heute nicht mehr wahrhaben wollen: Der Durchschnitt der damaligen DDR-Löhne lag bei 1250 Ost-Mark. Hätten wir eins zu zwei umgestellt, wären viele Leute abrupt in die Armut gestürzt worden. Die Produktivität der DDR-Wirtschaft lag unter 30 Prozent gegenüber der des Westens, jeder mobile DDR-Bürger wäre in den Westen gegangen. SPIEGEL: Heute versuchen Linkspartei und AfD Stimmung gegen die Treuhand zu machen, denken gar über einen Untersuchungsausschuss nach. Waigel: Ach Gott, ich würde als Zeuge auch einen dritten Ausschuss überstehen, denn ich wurde ja schon in zwei Treuhand-Ausschüssen des Bundestags befragt. Damals übrigens vom späteren SPD-Bundesinnenminister Otto Schily. Der hat mich acht Stunden lang vernommen, damals war ich stinksauer auf ihn, heute sind wir befreundet. SPIEGEL: Gibt es nichts, was Sie hätten besser machen können? Waigel: Wir hätten den Menschen im Osten noch deutlicher sagen sollen, dass selbst die SED die Lage als katastrophal einschätzte. Der damalige Vorsitzende der staatlichen Planungskommission, Gerhard Schürer, hatte in zwei geheimen Papieren den Kollaps der DDR vorausgesagt, auch eine Reduzierung des Lebensniveaus der DDR um bis zu 30 Prozent. Die DDR-Betriebe waren nicht profitabel, die Erzeugnisse hatten nicht genügend Abnehmer. Wir haben über 300 Milliarden DM über die Treuhand in Betriebe gesteckt und versucht, jene zu erhalten, die wettbewerbsfähig waren. Und auch das muss gesagt werden, weil Schuldzuweisungen manchmal sehr einseitig sind: Im Treuhandverwaltungsrat saßen auch die Ministerpräsidenten der neuen Bundesländer, saßen Vertreter der Gewerkschaften und der Wirtschaft. SPIEGEL: Im Osten hat die AfD die Linke als stärkste Kraft abgelöst. Beunruhigt Sie diese Entwicklung? Waigel: Ja, schon. SPIEGEL: Wie erklären Sie sich das? Waigel: Es ist ein Bündel von Gründen, durchaus auch ein kulturelles Phänomen. Vier Millionen Menschen sind von 1949 bis 1989 vom Osten in den Westen gegangen. Wir im Westen hatten zwölf Jahre Nazi-Diktatur, danach kam relativ schnell die Demokratie. Im Osten aber schloss sich gleich nach Kriegsende die sowjetische Besatzungszeit und ab 1949 bis 1989 die DDR-Diktatur an, fast ein halbes Jahrhundert also. Das wirkt sich auch auf den Umgang mit anderen Kulturen, anderen Ethnien, Völkern aus. Wir haben ähnliche Entwicklungen ja auch in anderen ehemaligen sozialistischen Ländern des Ostblocks. Ich bin aber überzeugt, in zehn, 20 Jahren sieht das anders aus. SPIEGEL: Welche Botschaft haben Sie für die Deutschen am diesjährigen 3. Oktober? Waigel: Wir haben die größte Solidaraktion in der Geschichte Deutschlands vollbracht, Ost und West. Darauf können wir alle miteinander stolz sein.
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